Der lange Abschied

1 – Die Haut – Indiz, Relikt und Beweis
„Ich denke, das Tier ist tot. Du kannst nur versuchen, dass es wieder lebendig aussieht, aber das wirst du nie hinkriegen. Es ist einfach tot und es ist auch nur die Haut. Das Tier ist weg.“ Lydia Mäder, Frohburg

 

Die Taxidermie ist ein Kunsthandwerk, dass sich ihrer Etymologie nach der Gestaltung von Häuten (griech. dérma) widmet, die in der Herstellung einer Dermoplastik ihren Abschluss findet. Es handelt sich bei ihr um eine skulpturale Praxis der Darstellung von Leben auf Grundlage von konservierten Fellen und Häuten. Das vorangestellte Zitat lässt die beunruhigende, aber nicht weniger faszinierende Paradoxie dieses Kunsthandwerks bereits anklingen.
Ein Präparat operiert mit der Suggestion von Lebendigkeit und hat zugleich den Tod dessen, was als „lebendig“ dargestellt wird, zur Voraussetzung. Trotz des Bewusstseins, dass die in den Museen zusammengetragenen und exponierten Tiere offensichtlich der Objektwelt angehören, kann die Tatsache, dass doch an diesen Artefakten etwas unzweifelhaft echt ist und somit gelebt haben muss, ein Gefühl von Unbehagen auslösen. So repräsentiert ein Präparat das Leben eines einzelnen Tieres und präsentiert zugleich mit der gegerbten Haut das harte Faktum seiner Abwesenheit. Die Haut ist Indiz, Relikt und Beweis dessen, was nicht mehr da ist.

 

2- Der Wert der Begegnung

„Ein Tierpräparat birgt die Möglichkeit, dass man auf psychologischer Ebene eine ganz persönliche Begegnung mit einem Tier hat. Das geht bei echten Tieren natürlich, im Zoo beispielsweise, dass einen mal ein Gorilla direkt anschaut. Und es funktioniert interessanterweise eben auch mit einer dreidimensionalen Plastik, wo ich die gegerbte Haut wieder rüber ziehe, die mit diesem Gorilla, wenn wir ehrlich sind, nicht sehr viel zu tun hat: Es ist meine Interpretation mit seinem Fell. Aber wenn man etwas auslösen will, dann braucht es das Präparat. Das lässt sich nicht ersetzen. Also, wenn ich das Skelett in Schachteln packe, dann habe ich mehr anatomische Informationen, als wenn ich ein Präparat habe. Das ist ein PU- oder Gips-Körper und ein Fell, aber man hat eine emotionale Verbindung damit, und bei einem Skelett in der Schachtel hat man keine. Und das ist ja, was Präparate auch in modernen Zeiten legitimiert und ihnen eine Wichtigkeit gibt.“ Sabrina Beutler, Düdingen

 

Der naturwissenschaftliche Wert eines Präparats ist marginal. Und dennoch stehen sowohl Wert als auch Wertschätzung der Präparation für naturhistorische Institutionen und ihr Publikum außer Frage. Es sind die Tierpräparator*innen, die bis heute maßgeblich die Rezeption naturkundlicher Sammlungen prägen. In Vitrinen nebeneinander gereiht, auf Sockeln oder in aufwendig gestalteten Dioramen inszeniert, üben Tierpräparate eine eigentümliche Faszination aus. Scheinbar der Zeit enthoben, im Sprung eingefroren, rufen sie für einen Moment die Illusion von Lebendigkeit auf und erwidern still den Blick der Betrachtenden. Ein wesentlicher Grund für diese Faszination mag darin liegen, dass Präparate in ihrer kommunikativen Ausrichtung und Theatralität, die Fiktion der unmittelbaren Begegnung mit einem Tier ermöglichen, die sich so in Wirklichkeit nicht – oder nur selten – ereignet. Das macht sie für das Publikum so wertvoll. Präparate lassen (temporäre) soziale Beziehungen zwischen Anwesenden (Betrachter*in) und Abwesenden (Tier) entstehen. Mittels dieser können sowohl die (ästhetische) Vielfalt existierender Arten entdeckt als auch der Verlust einzelner Lebewesen und ganzer Arten erfahrbar werden.

 

3- Der leere Blick
„Also, wenn ich einen Wolf modelliere und da kommt dann die Haut drüber, dann erst wird er zum Wolf. Da gibt es dann diesen Moment, wo der guckt und dann ist er da, dann ist das Wotan, der Wolf, oder Berta, die Bache. Das hat etwas sehr Liebevolles, wie ich ihm zu seiner Individualität verhelfe, zu seinem ganz persönlichen Ausdruck.“ Sabrina Beutler, Düdingen

 

Eine Grundeigenschaft von Präparaten besteht in ihrer kommunikativen Ausrichtung. In der Herstellung eines Blickverhältnisses zwischen Betrachter*in und Objekt, zwischen Lebewesen und dem Leben suggerierenden Artefakt liegt ihre ganze Faszination.
Aus diesem Grund ist die Gestaltung der Augen eines Präparats für Präparator*innen von zentraler Bedeutung. In dem „lebendig“ wirkenden Blick eines Präparats offenbart sich die hohe Kunst der Taxidermie. Seine erzielte Wirkung ist Gradmesser dafür, ob die Repräsentation von Leben in Form einer Plastik als gelungen gelten kann oder aber gescheitert ist.
In den Katalogen branchenführender Hersteller*innen von künstlich produzierten Augen befinden sich weit über 800 unterschiedliche Augenpaare, die bei der Präparation von Säugetieren über Reptilien und Vögeln bis hin zu Fischen zur Verwendung kommen. Das, was also beim Besuch naturhistorischer Museen den eigenen Blick zu erwidern scheint, ist der „Blick“ eines – nicht selten industriell produzierten – Artefakts. Der Blick eines Präparats ist – so betrachtet – leer. Denn es sind Augen aus Glas oder Kunststoff, die lediglich als Projektionsfläche für unsere Vorstellung und Interpretation von Natur dienen.
Eine schöne Phrase über die Begegnung mit Tieren ist von Elias Canetti überliefert, wonach, wann immer er einem Tier direkt in die Augen schaut, er das Gefühl habe, ein Mensch, der drinsitze, lache ihn aus. Und nicht anders verhält es sich bei einem Präparat, bei dem der Blick in die Augen seine menschliche Urheberschaft und Gemachtheit verrät.

 

4- Präparate als Agenten des Futur II
„Wenn ich ins Museum gehen und da steht ein Riesenalk, eine Wandertaube und ein Lappenhopf, dann sage ich auch: Das ist doch schön, die sehe ich nie wieder!“ Dirk Grundler, Magdeburg

 

Das Futur II ist eine überaus poetische Zeitform. Umgangssprachlich als „vollendete Zukunft“ bezeichnet, spielt das Futurum exactum mit der Konjugation zweier – auf den ersten Blick – sich diametral entgegenstehender Zeiten: Zukunft und Vergangenheit. Ihr Diktum lautet: Es wird gewesen sein. Und ist es nicht gerade die Vorstellung einer solchen „vollendeten Zukunft“, welche sich vor dem Hintergrund der drohenden Katastrophen der Gegenwart in die Betrachtung naturkundlicher Institutionen mit einzuschleichen beginnt? Ändert sich nicht auch dadurch maßgeblich ihre Rezeption? Lautete der ursprüngliche Auftrag von Naturkundemuseen zu repräsentieren, was ist und auf der Welt existiert, vergegenwärtigen sie zunehmend vielmehr, was war und künftig gewesen sein wird. So transformieren sie zu Orten der Erinnerung und – im Angesicht der Tierpräparate – zu Schauplätzen antizipierter Trauer um unwiederbringlich verloren gehende Biodiversität. Aus der Perspektive einer vollendeten Zukunft betrachtet, vermag uns die Kunst der Präparation – bildhaft und körperlich zugleich – den anthropogen hervorgerufenen Wandel ohne Umkehr zu vergegenwärtigen. Als Repräsentanten bedrohter und bereits vergangener Artenvielfalt verkörpern Präparate den Verlust ganzer Spezies, deren gegerbte Häute als Hinterlassenschaft fungieren. Sie umschließen und bezeichnen eine Leerstelle, die eindringlich erfahren wird. Präparate sind Agenten des Futur II. Sie führen uns vor Augen, was alles – eines Tages in der Zukunft – einmal gewesen sein wird.

 

5 – Der Lange Abschied
„Genau das tun Präparator*innen: Ihr Hauptziel ist, den Prozess des Verschwindens zu verlangsamen, vielleicht sogar zu stoppen. Aber die meiste Zeit ist es kein wirklicher Stopp. Sie verlangsamen nur den Prozess. Es ist eine Tatsache, dass jeder biologische Gegenstand dazu bestimmt ist, zerstört zu werden. Ich meine, das Leben ist so. Aber ok, also lasst uns versuchen, diese Weile ziemlich lang zu machen.“ Michel Satori, Lausanne

 

Durch die mehrjährige Recherche zur Taxidermie sind wir zahlreichen Präparator*innen, Wissenschaftler*innen und Museumexpert*innen begegnet, die großzügig Einblicke in ihre Werkstätten und Arbeitsorte, Depots und Ausstellungsflächen gegeben haben. Dabei haben sie nicht nur freigiebig ihr Wissen mit uns geteilt, sondern auch persönliche Erfahrungen geschildert und Geschichten erzählt, die Ausgangspunkt unserer künstlerischen Arbeit der vergangenen drei Jahre waren und die in Theaterstücke und Installationen eingeflossen sind.
Vor diesem Hintergrund möchten wir diesen Essay auch mit einer Geschichte abschließen. Es handelt sich dabei um eine unter vielen, die uns über mögliche Motive und Hintergründe dieser kulturellen Praxis Aufschluss geben, Geschichten, die uns faszinieren und begleiten, die wir uns angeeignet haben und weitererzählen und die – im besten Fall – von einzelnen Zuschauer*innen, Besucher*innen oder Leser*innen wiederum aufgegriffen und weitergetragen werden.
Einmal ist ein Paar mit einem toten Specht zu einer Tierpräparatorin gekommen, der gegen ihre Terrassentür geflogen war. Als sie ihn da liegen sahen, wurden sie zum ersten Mal mit der Schönheit dieses Vogels konfrontiert. Sie konnten ihn anfassen, die Flügel auf und zu machen und sahen: Oh, das funktioniert. Und nachdem sie realisiert hatten, dass er tot ist und somit anfängt zu verwesen, sind sie zu ihr gekommen und wollten Geld dafür zahlen, um das zu verhindern. Niemals hätten sie Geld in einen lebenden Specht investiert, der ja einfach da ist. Aber als dieser Specht drohte, nicht mehr da zu sein, entstand der Wunsch, ihn zu erhalten. Er war im Begriff zu verschwinden und das machte ihn für das Paar so wertvoll.
Und als sie die Präparatorin fragten, wie lang der Specht jetzt haltbar sei, sagte sie ihnen, dass es den Specht nicht für immer geben könne. Sie könne ihnen nur mehr Zeit geben, um von ihm Abschied zu nehmen. Vielleicht 100 Jahre, vielleicht ein paar Jahrzehnte, vielleicht ein paar Wochen, je nachdem, was bei ihnen Zuhause so los sei. Es sei einfach nur ein längeres Abschiednehmen. Die Präparation könne den Prozess nicht für immer aufhalten, aber das mache nichts, da durch sie die Faszination ermöglicht würde. Denn darum ginge es, den Fokus mal auf diesen Specht richten zu können und zu sehen: Das ist etwas fantastisch Schönes.