Traum einer Sache
Es grollt, kaum dass man Platz genommen hat: „Wehe euch, ihr Heuchler!“ hallt es mit einer Stimme, deren Timbre den Apostel Matthäus irgendwie nach spätem Vincent Price klingen lässt. Was im hübschen Kontrast steht zu der freundlichen Anmutung einer Bühne, auf der sich eine Fläche blass-schönen Blaus vor einem Turm kräftigen Rots ausbreitet. […] ,,Es wird sich zeigen, dass die Welt längst den Traum einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss um sie wirklich zu besitzen.“ Mit diesem Karl Marxschen Diktum ist, gleich einem Impulsgeber, die Inszenierung überschrieben. Und dass auf den messianischen Verkünder des Himmelreichs auf Erden ein Verkünder des himmlischen Messias folgt, ist dabei dramaturgisch stringent. Und irgendwie witzig auch. […] Dabei gelingen Rauter und Grau dann auch erst einmal wirklich starke Momente. Choreografisch komprimieren die sich in Bewegungen einer Langsamkeit, die wie die latente Aufforderung zum ruhigen Atmen und genauen Hin- schauen wirkt. Ein Tanz ins Slowmotion, voll der Zitate christlicher Ikonographie, die immer wieder aus dem Bewegungsfluss heraus auftauchen, untergehen, erneut auftauchen. Dabei wird nicht mit Virtuosität überrumpelt, sondern mit Genauigkeit hypnotisiert.
Steffen Georgi, Leipziger Volkszeitung, 28.Juni 2014
Was Julian Rauter auf die Bühne stellt, glänzt. […] Und immer diese Drift nach oben. […] Ein langer weißer Bühnenteppich und ein roter Turm, der in den dunklen Bühnenhimmel ragt, gliedern den Raum. Am Fuß des Turmes stehen drei Darsteller in Kleidern, deren farbliche Kraft und formale Reduziertheit an die Bildästhetik Kandinskys erinnern. Sie starren zu einem Fetisch hinauf, der oben am Turm schwebt. Zu einer Jacke mit der Aura eines heiligen Gewands, auf der ein goldener Greif mit der Anmutung eines Gottes seine Schwingen ausbreitet.
Christian Horn, Theater der Zeit, 10/2015
Im Maschinenhaus Essen ertönt Natur. Vogelgezwitscher dringt ans Ohr. Der Blick durchwandert die hohe Halle mit Backsteinwänden. Die Bühne: ihre leuchtend rote Hinterwand ein aufgeklappter Sargdeckel oder doch ein Triptychon? Gleich den Bildern der Marienerscheinungen geben die weißen und dezent roten Kleidungsstücke der Tänzer und das helle Blau des Bodens Hinweise. Diese sakral anmutende Szenerie, getragen von Beschwörungsgestiken, dieser zärtlichen Vertrautheit und der Gemeinsamkeit eines Visionären, lässt die Frage von Utopie und Pathos virulent durch den Raum schweben. Man wird Zeuge einer besonderen Andacht, die sich als Ausdrucksmedium nicht die Sprache, sondern den Körper sucht. Drei Körper, die sich immer wieder ein und entfalten, um in dem sakralen Raum der Bühne eine Bewegungsmacht zu entwickeln, die dem Tod immer wieder zu entkommen scheint. Es wird auferstanden, gestorben und wiederbelebt.
Daniela Doutch, Stellwerk-Magazin