The Big Sleep

Editorial

Publikation The Big Sleep, Hrsg.: Alisa Hecke, Julian Rauter Text: Julian Rauter gemeinsam mit Alisa Hecke

2020

Hat die Tierpräparation zwar den Tod zur Voraussetzung, so ahmen Tierpräparate gleichwohl Lebendigkeit nach. Von ihnen geht eine besondere Faszination aus, ermöglichen sie doch eine unheimliche Begegnung: Die inszenierten Tiere, in ihrem Stillstand vermeintlich der Zeit enthoben, scheinen den Blick des menschlichen Betrachters zu erwidern und lassen ihn so selbst zu einem Gegenstand der Betrachtung und Befragung werden.

„The Big Sleep“ hat eine dreijährige Recherche zur Grundlage, die wir zwischen 2017 und 2020 im Umfeld naturkundlicher Sammlungen durchgeführt haben. Ausgehend vom Paradigmenwechsel derartiger Institutionen im Zuge globaler ökologischer Veränderungen, haben wir dabei nach dem Bedürfnis des Menschen geforscht, natürliche Verwesungsprozesse aufzuhalten und Relikte organischen Lebens zu erhalten, um sie aufbereitet der Nachwelt zu überliefern. Denn die Naturkundemuseen werden zunehmend zu Orten der Erinnerung an unwiederbringlich verschwundene Tierarten, die hier, so scheint es, noch einmal zum Leben erweckt werden. Im Zuge einer Interviewreihe haben wir uns mit der präparatorischen Praxis, ihren Protagonist*innen und deren Beweggründen beschäftigt und dabei gefragt, was sich anhand der Tierpräparation über den Menschen in Erfahrung bringen lässt. Wie fungieren geformte Körper als Träger von Erinnerung? Nach welchen ästhetischen Prämissen wird tote Materie in der Tierpräparation gestaltet? Und wie gelingt es diesem Handwerk, damit die Illusion von Lebendigkeit zu erzeugen?

Die Publikation der Recherchen versammelt ausgewählte Auszüge aus diesen Interviews, collagiert sie mit Werkstatt- und Archiveindrücken und einer eigens für das Projekt entstandenen Bildstrecke des Leipziger Künstlers Falk Messerschmidt. In einem gemeinsamen Gespräch mit dem Journalisten und Theaterkritiker Steffen Georgi werden die Motive des Kunstprojekts reflektiert und die Zusammenhänge, Gemeinsamkeiten und Grenzen von taxidermischen und theatralen Inszenierungsstrategien diskutiert. Die Theaterwissenschaftlerin und Autorin Kristin Flade umkreist in ihrem Essay die Rolle von Präparaten als stumme Zeugen historischer Ereignisse sowie als Träger persönlicher Erinnerungen, die sich in der Begegnung aktualisieren und die Ablagerungen von Vergangenem aufwirbeln.

Die Recherchen sind Teil des Kunstprojekts „The Big Sleep“, das verschiedene interdisziplinäre Formate um- fasst und an Theatern und Museen in Deutschland und der Schweiz präsentiert wird.

Wir möchten uns bei allen Gesprächspartner*innen bedanken, die bereitwillig ihre Zeit mit uns geteilt und Einblick in ihr Arbeitsfeld geboten haben. Ihre Aufgeschlossenheit zu Erinnerungen, Reflexionen und Spekulationen haben ein umfangreiches, vielschichtiges dokumentarisches Archiv angefüllt, in das nun ihrerseits die Recherchen einen Einblick bieten und einladen, menschliches wie tierisches Leben zu betrachten, erinnern und befragen.