für das Magazin RuhrDing: Klima von Urbane Künste Ruhr
Text: Julian Rauter, Alisa Hecke
In der 1961 vom Günther Anders veröffentlichten Erzählung Die beweinte Zukunft beabsichtigt der Protagonist Noah, der als einziger von der nahenden Flut weiß, seine Mitbürger*innen zum Bau zahlreicher Archen zu bewegen.
Die gemeinsame Anstrengung der Herstellung vieler schwimmender Refugien – und nicht etwa eines einzigen – soll die bevorstehende Katastrophe, mit der das Verschwinden allen Lebens auf der Erde einherzugehen droht, wenn auch nicht abwenden, so zumindest abmildern. Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen, seine renitenten Mitbürger*innen von den Folgen ihrer Tatenlosigkeit im Angesicht des kommenden Ereignisses zu unterrichten und sie somit zum Handeln zu bewegen, beschließt Noah zum letzten Mittel zu greifen: Die Kunst der Nachahmung, das Schauspiel.
Im Wissen, dass, „wenn die Flut morgen kommt, es übermorgen zu spät sein wird“, begibt sich Noah, „verkleidet in das Kostüm der Wahrheit, ein Schauspieler des Schmerzes, der sein wirklicher Schmerz war“, auf die Straße und verkörpert vor dem nun neugierig gewordenen Publikum einen „Hinterbliebenen der Toten von morgen“. Er stimmt die Totenklage für diejenigen an, die morgen sterben werden, für sie vergießt er die Tränen im Voraus und nimmt so den Schmerz schon heute vorweg.
In seiner antizipierten Trauer beweint Noah eine Zukunft, deren Kommen zwar unweigerlich feststeht, die aber noch nicht Gegenwart geworden ist. Er bedient sich dabei der Zeitform des Futur II, deren Poesie wohl erst die umgangssprachliche Bezeichnung der „vollendeten Zukunft“ zur Geltung bringt und deren Diktum lautet: Es wird gewesen sein. Mit der vorweggenommenen Zukunft in Vergangenheitsform (dem Futur II) und der Technik der Repräsentation (dem Theater) bringt Anders in seiner Umdeutung der biblischen Flutgeschichte zwei äußerst wirkmächtige Mittel zur Anwendung, deren Übertragung auf das Feld naturkundlicher Institutionen, ihren Praktiken und Protagonist*innen, für uns als interdisziplinär arbeitende Künstler*innen besonders reizvoll ist. In einer mehrjährigen Recherche haben wir uns dem Handwerk der Tierpräparation gewidmet und diejenigen befragt, die die Rezeption naturhistorischer Sammlungen und unser Bild von Natur maßgeblich prägen: zoologische Präparator*innen. Unsere Neugier galt dieser speziellen Darstellungsform von Leben, bei der mittels der Verarbeitung von Tierhäuten Darstellendes und Dargestelltes punktuell zusammenfallen, die Inszenierung von Blickverhältnissen von zentraler Bedeutung ist und die im Zusammenspiel der genannten Motive Vergänglichkeit unmittelbar erfahrbar werden lässt.
In Vitrinen nebeneinander gereiht, auf Sockeln oder in aufwendig gestalteten Dioramen inszeniert, üben Tierpräparate eine eigentümliche Faszination aus. Scheinbar der Zeit enthoben, im Sprung zurück ins Leben eingefroren, rufen sie für einen Moment die Illusion von Lebendigkeit auf und erwidern still-schweigend den Blick des Betrachters. Ein Präparat ermöglicht die Fiktion der unmittelbaren Begegnung mit einem Tier, die sich so in Wirklichkeit nicht – oder nur selten – ereignen könnte.
Eine schöne Phrase über die Begegnung mit den Tieren ist von Elias Canetti überliefert, wonach, wann immer er einem Tier direkt in die Augen schaut, er das Gefühl habe, ein Mensch, der drinsitze, lache ihn aus. Und nicht anders verhält es sich beim Präparat, bei dem der Blick in und hinter die Augen, seine menschliche Urheberschaft und Gemachtheit verrät.
Auch im Bewusstsein, dass das, was uns in seiner Beharrlichkeit neugierig und stumm anzublicken scheint, nicht die Augen eines real existierenden Tieres sind, sondern lediglich Glasaugen eines produzierten Objekts, so löst doch die Tatsache, dass an diesem Artefakt etwas unzweifelhaft echt ist und damit gelebt haben muss, ein Gefühl von Unbehagen aus.
„Ich denke, das Tier ist tot. Ich weiß, das ist immer widersprüchlich: Einmal willst du, dass es lebt, und dann sagst du, es ist tot. Du kannst nur versuchen, dass es wieder lebendig aussieht, aber das wirst du nie hinkriegen. Es ist tot und es ist auch nur die Haut. Das Tier ist weg.“
Bei einem Werkstattbesuch der Frohburger Tierpräparatorin Lydia Mäder schilderte sie uns exemplarisch die Herausforderung, auf die ihr Handwerk mit der Herstellung einer dreidimensionalen Plastik aus einem organischen Relikt, der Tierhaut, zu antworten versucht. Und sie verortet den tatsächlichen Verlust (eines Lebewesens), der in jedem Tierpräparat seine Verkörperung findet. Denn das dargestellte Tier ist nicht nur tot, sondern schlicht und ergreifend weg. Diese Abwesenheit zu erfahren, ermöglicht uns die Begegnung mit dem Präparat. Es fungiert für uns als Botschafter einer anderen Zeit, der sich zwar als stumm kennzeichnet, dessen Blick aber lautstark dazu auffordert, gesehen und betrachtet zu werden. Das Präparat insistiert: „Schau mich an!“, und erlaubt in seiner spezifischen kommunikativen Ausrichtung die Herstellung von (temporären) sozialen Beziehungen zwischen Lebenden und Verstorbenen, Anwesenden und Abwesenden.
Vor dem Hintergrund der drohende(n) Katastrophe(n) der Gegenwart, erfahren Naturkundliche Sammlungen mit ihrem Inventar an unbelebter Natur einen paradigmatischen Wandel und lassen sich zunehmend als Räume des Futur II begreifen.
Lautete ihr ursprünglicher Auftrag, zu repräsentieren, was ist und auf der Welt existiert, vergegenwärtigen sie zunehmend vielmehr, was war und künftig gewesen sein wird. Sie werden zu Orten der Erinnerung und – im Angesicht der Tierpräparate – zu Schauplätzen der antizipierten Trauer an unwiederbringlich verloren gehende Biodiversität. Konserviert, inventarisiert und ausgestellt, verkörpert das Präparat nicht länger den Verlust eines einzelnen Tieres, es repräsentiert viel mehr den seiner ganzen Art.
Aus der Perspektive einer vollendeten Zukunft betrachtet, vermag uns die Kunst der Präparation – bildhaft und körperlich zugleich – den anthropogen hervorgerufenen Wandel ohne Umkehr zu vergegenwärtigen. In der unmittelbaren Begegnung mit den Repräsentanten bedrohter Artenvielfalt, führt sie uns eindringlich vor Augen, was alles – eines Tages in der Zukunft – einmal gewesen sein wird.
In Anders Erzählung endet Noahs Schauspiel in einer langen, reglosen Pause, die er schließlich auflöst, indem er seine Hand ausstreckt, um die mittlerweile aufgezogenen Wolken auf Regenfall zu prüfen. Er verlässt sein Publikum mit den Worten: „Noch ist es Zeit. Es ist heute. Die Vorstellung ist beendet.“ Und als der Regen bereits eingesetzt hat, kommen seine Mitbürger*innen zu seinem Haus und bieten ihre Unterstützung für den Archenbau an, auf dass das prophezeite Ende unwahr werde.