Fördermittelantrag für das interdisziplinäre Kunstprojekt zur Taxidermie The Big Sleep
Text: Julian Rauter, Alisa Hecke
Fördermittelantrag für das interdisziplinäre Kunstprojekt zur Taxidermie The Big Sleep
Text: Julian Rauter, Alisa Hecke
The Big Sleep“ ist ein interdisziplinäres Projekt der Leipziger Theatermacher*innen Alisa Hecke und Julian Rauter, das in Kooperation mit sieben Kunst- und Naturwissenschaftsinstitutionen in Deutschland und der Schweiz entsteht.
Auf Grundlage von Interviews mit Tier-Präparator*innen erarbeiten Hecke/Rauter fünf verschiedene künstlerische Formate, die Taxidermie als kulturelle Praxis und, damit verknüpft, die Repräsentation von Lebendigkeit durch tote Materie erforschen.
Die fünf entwickelten Formate – Performance, szenische Installation, Audioinstallation, performative Intervention und Hörstück – ermöglichen eine sich in inhaltlichem Fokus, künstlerischem Ansatz, Zielpublikum und institutionellem Bezug jeweils stark unterscheidende Behandlung des Themenkomplexes. Aufführungsorte sind Naturkundemuseen, Theaterhäuser und ein freies Kunstfestival.
Das internationale Projekt entsteht in Koproduktion mit der Residenz des Schauspiels Leipzig, dem Kunstfest Weimar, dem Theaterdiscounter Berlin, dem Roxy Birsfelden (CH), dem Naturhistorischen Museum Basel (CH), dem Muséum d’histoire naturelle de la Ville de Genève (CH) sowie dem Natualienkabinett Waldenburg.
Die vielschichtige(n) Geschichte(n) der Taxidermie, ihre Anschlussfähigkeit an ästhetische wie wissenschaftliche Diskurse wird in dieser Projektstruktur aufgegriffen und reflektiert. Das Projekt zeugt damit von einer gesamtgesellschaftlichen Relevanz. Durch die Zusammenarbeit vieler Institutionen adressiert es eine sehr breite Zielgruppe, von der Schulklasse bis zu Theatergänger*innen und fördert den Dialog und die Vernetzung von Akteuren aus den Bereichen Wissenschaft, (künstlerischer) Forschung und Kultur.
Mit der Berücksichtigung von „The Big Sleep“ für die Allgemeine Projektförderung 2020 unterstützt die Kulturstiftung des Bundes maßgeblich ein Großprojekt, welches sich durch eine langfristige, länderübergreifende Recherche im Feld der Taxidermie und der naturkundlichen Sammlungspraxis auszeichnet und virulente Fragen nach dem ökologischen Wandel unseres Planeten künstlerisch und kulturhistorisch neu perspektiviert.
Hintergrund
Die Präparation ist ein (Kunst-)Handwerk, welches Naturfunde konserviert und aufbereitet, um sie als Gegenstand
der wissenschaftlichen Forschung und -vermittlung sowie zur ästhetischen Betrachtung bereitzustellen. Sie werden gesammelt, klassifiziert und in Kulturdepots archiviert.
In naturkundlichen Sammlungen aufbewahrt üben Tier-Präparate eine eigentümliche Faszination aus: Der Zeit enthoben, auf der Schwelle zwischen Tod und Leben verharrend, scheinbar im Sprung zurück ins Leben eingefroren, ahmen
sie kunstvoll Lebendigkeit nach. In dieser Regungslosigkeit und der still-schweigenden Erwiederung des Blickes der Betrachter*innen offenbart sich dabei auch eine Fremdheit, ein Nicht-Verstehen (von Natur). Die auf Glaskörper gemalten Augen fungieren als Reflektionsfläche, sie stellen das menschliche Selbstbild und Selbstverständnis in Frage, lassen den Menschen selbst zum Gegenstand der Betrachtung werden.
In dieser Praxis liegt eine Dialektik: Tier-Präparation beabsichtigt, natürliche Verwesungsprozesse aufzuhalten, die Illusion von Leben zu erzeugen und hat dabei den Tod eines einzelnen Körpers zur Voraussetzung: Das Tier ist weg, es ist tot, es bleibt nur die Haut, die einen neuen Körper umschließt und Leben suggerierend die Transformation hin zum Artefakt vollzieht. Das Präparat besetzt und gestaltet kunstvoll eine Leerstelle und verweist stets auf ein Abwesendes, seinen Repräsentanten, das tote Tier. In diesem Sinne kann Taxidermie als Teil von Erinnerungskultur verstanden werden, so die Prämisse der Künstler*innen: Es handelt sich um eine Kulturpraxis, die sich der Endlichkeit, dem Verfall und dem Vergessen zu widersetzen versucht. Anhand eines Tier-Präparates wird ein postmortales Betrachten, Gedenken und Abschiednehmen ermöglicht. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse des Artenverfalls gewinnt dieser Aspekt der Praxis an Dringlichkeit, denn vergegenwärtig wird nicht nur der Verlust eines einzelnen Exemplars sondern der seiner Spezies.
Aus dieser Perspektive widmen sich die Theatermacher*innen Alisa Hecke, Julian Rauter und Mitwirkende aus Darstellender Kunst, Bildender Kunst und Naturwissenschaft der Taxidermie. Vorausgegangen ist „The Big Sleep“ die zwischen 2017-2019 durchgeführte Recherche „Erinnerungen für Morgen“, die sich mit dem paradigmatischen Wandel naturkundlicher Sammlungen beschäftigt hat; ihrer Transformation von Orten der Repräsentation existierender Arten zu Orten der Präsentation unwiederbringlich vergangenem Leben. Interviews mit über 25 Präparator*innen und weiteren naturwissenschaftlichen Expert*innen begründen die persönliche Faszination an der Präparation. Das umfangreiche dokumentierte Material ist Grundlage der unterschiedlichen Projektformate.
Den faszinierenden Narrativen, Motiven und Darstellungsstrategien der Präparationspraxis möchte das Projekt in seinen verschiedenen Formaten gerecht werden. Durch die Ankopplung an wissenschaftliche und künstlerische Institutionen, entwirft das Vorhaben das komplexe Bild einer ebenso komplexen wie paradoxalen kulturellen Praxis des Menschen, das in einem einzelnen, räumlich und formal begrenzten, Projekt so nicht herzustellen wäre. Der Titel „The Big Sleep“ (Der Große Schlaf) verweist auf die Indifferenz von Präparaten, die Tod und Leben, Vergänglichkeit, Stillstand und Fortleben assoziieren. Wie auch das Gesamtprojekt trägt die Performance den Titel „The Big Sleep“.
In einer zweisprachigen Begleitpublikation (Deutsch, Englisch) zum Gesamtprojekt „The Big Sleep“ werden Recherchedokumente, Interviewpassagen und Werkstatteindrücke mit der Materialsammlung der Künstler*innen collagiert.